Meine Vision | BLOG

Wie kommt man überhaupt dazu, eine Vision zu haben? Und dann noch für sie loszugehen?

Ich weiß nicht, wie es bei anderen Menschen im Einzelnen so gelaufen ist.

Ich denke aber, dass Visionär*innen eines gemeinsam haben: sie haben irgendwann etwas erlebt, was sie tief und nachhaltig geprägt hat. Im positiven wie im negativen. Und dann braucht es noch das Bedürfnis, diese Welt zu einer besseren machen zu wollen. Dem Menschen zu dienen. Dazu beizutragen, dass es für Andere mit dem gleichen Problem Lösungen geben möge. Dass weniger Leid produziert wird.

Und so war es eben auch bei mir. Das wohl einschneidendste Erlebnis meines Lebens war der Tod meines Bruders als ich 18 Monate alt war. Es war im Jahr 1967. Er starb wenige Stunden nach der Geburt auf Grund einer Infektion. Er wurde notgetauft. Meine Mutter wurde ruhig gestellt. Es gab keinen Abschied, keine Beerdigung, kein Grab. Keine Trauerbegleitung, kein Gespräch. Kein Ritual, kein Foto, keinen Platz. Keine Erklärung, kein gemeinsames betrauern. Kein Verständnis. Keine Hilfe. Für niemanden in meiner Familie.

Das war damals völlig normal.

Es ist nicht der Tod, der unser Leben in Stücke reißt. Noch nicht einmal der Schmerz. Es ist der Umgang. Es ist das beharrliche Schweigen. Was ich nicht ausspreche, ist nicht da. Über meinen Bruder wurde nie mehr ein Wort verloren. Es war ein Riesen Tabu. Und eine riesige Tragödie die zur Folge hatte, dass der unaufgelöste Schmerz alle sehr krank gemacht hat. Ich habe jahrzehntelang therapiert, war in toxischen Beziehungen und hatte zig psychosomatische Erkrankungen.

Und ich hatte diesen „natürlichen Drang“, mich hauptsächlich erstmal beruflich diesem Thema zu widmen. Und dabei immer mehr und mehr Erkenntnisse über den Schmerz meiner Familie, meinen eigenen und dieser Gesellschaft zu erfahren. Denn das, was uns passiert ist, ist tausenden anderen Familien passiert. Und passiert leider immer noch.

Meine Vision ist, dass wir endlich aufhören, unsere Trauer in Normen zu pressen, zu verschweigen, uns zu schämen, zu werten oder Patentrezepte zu erwarten. Dass wir den teufelskreis von Verletzung nicht gefühltem Schmerz durchbrechen.

Es gibt so viele Erkenntnisse. Es gibt so viele Bücher. So viele Experten. Einen eigenen Studiengang dazu.

Doch im Reallife erlebe ich noch immer das, was schon immer war: Vorurteile, Ausgrenzung, Scham, Einsamkeit und am Ende der Fahnenstange die Diagnose „Depression“.

Und deshalb habe ich eine Vision. Die Vision einer besseren Welt. In der Trauernde auf Verständnis und Mitgefühl treffen. Ihre Wünsche und Vorstellungen formulieren. Immer ein Platz zum reden und weinen da ist. Keine Scham, keine Angst.

Damit es niemandem mehr so gehen muss wie meiner Familie.